Bericht aus den Archiven: Moskau, St. Petersburg und London im Frühjahr 2019

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Der Lesesaal der St. Petersburger Nationalbibliothek im März 2019

 

Der Lesesaal der St. Petersburger Nationalbibliothek im März 2019

Vielleicht werden Archivreisen in Zukunft überflüssig: Die Digitalisierung schreitet voran. Das britische Nationalarchiv (National Archives, vormals Public Records Office) plant, bis 2024 insgesamt 500 Millionen Seiten digital zur Verfügung zu stellen. Auch ein Großteil der Zeitungsbestände der britischen Bibliotheken sind mittlerweile online abrufbar. Bis allerdings alle Dokumente digitalisiert sind, werden noch viele Jahre vergehen: Allein das britische Nationalarchiv ist im Besitz von über 12 Milliarden Manuskriptseiten und es kommen ständig neue Akten dazu!

Für Historikerinnen und Historiker hat die Digitalisierung zunächst einmal viele Vorteile: Die Scans bieten neue Möglichkeiten der Recherche, so etwa die Volltextsuche. Es entsteht auch neue Transparenz, Verweise auf Archivquellen können schneller überprüft werden. Und natürlich sind die Dokumente schneller verfügbar, das ausführliche Exzerpieren oder auch das Abfotografieren von Dokumenten bleibt den Wissenschaftlern erspart. Doch es geht auch vieles von dem verloren, was die Recherche bislang ausmachte: Die Archive verlieren die Aura des Geheimnisvollen, der Prozess des Suchens nach bislang unbekannten Informationen wird verkürzt. Zudem wird es in Zukunft immer weniger Vorwände für Forschungsreisen geben.

Nun habe ich das Glück, noch nicht in dieser vielleicht nicht mehr allzu fernen Zukunft zu leben: Im Rahmen meines Forschungsprojektes zur transnationalen Geschichte politischer Gewalt im ausgehenden 19. Jahrhundert ist es unabdingbar, auch Archive aufzusuchen. Da ich einige Semester mein Lehrdeputat überfüllt habe, muss ich im Sommersemester 2019 nicht unterrichten. Damit bietet sich mir aktuell die Gelegenheit, Archive in London, Paris, Berlin, Moskau, St. Petersburg sowie eventuell Madrid und Wien aufzusuchen. Finanziert werden diese Reisen unter anderem durch ein Gerald-Feldman-Stipendium der Max-Weber-Stiftung.

Bislang konnte ich fünf Archive aufsuchen, zunächst in Berlin, danach in St. Petersburg und Moskau sowie zuletzt in London. Was ich dabei herausgefunden habe, werde ich in meiner derzeit entstehenden Monografie verraten. An dieser Stelle möglich ist jedoch ein erster Bericht über meine Erfahrungen. Denn ein Nebenprodukt internationaler Archivrecherchen ist die zunehmende Archiverfahrung, die es mir auch erlaubt, gewisse Vergleiche anzustellen.

Nun wird gerade in Russland häufig über die Archivsituation geklagt. In letzter Zeit wurde der Archivzugang wieder restriktiver gehandhabt und insbesondere diejenigen, die sich mit der Zeitgeschichte befassen, stoßen immer wieder auf Grenzen des Machbaren: Viele Dokumente zur Geschichte der sowjetischen Außenpolitik und insbesondere der Geheimdienste bleiben gesperrt. Forscher*innen, die sich mit diesen Themen befassen wollen, suchen immer häufiger die Archive in der Ukraine auf, wo auch die Geheimdienstarchive zuletzt zugänglich gemacht wurden. Für das 19. Jahrhundert, mit dem ich mich befasse, bestehen hingegen kaum Beschränkungen: Die Dokumente der ochrana, des zarischen Geheimdienstes, sind im Moskauer Staatsarchiv (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, GARF) großenteils auf Mikrofilmen zugänglich. Das Lesen an den veralteten Geräten des GARF ist zwar mühsam, allerdings darf man die Filme im Gegensatz zu den Originaldokumenten auch abfotografieren, was die Arbeit erheblich beschleunigt. Allein die Außenpolitik bereitete mir in Russland Schwierigkeiten: Zunächst dauerte es fünf Wochen, bis ich einen Passierschein für das Außenpolitische Archiv (Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Imperii, AVPRI) erhielt. Danach stellte sich heraus, dass man pro Woche maximal drei Akten bestellen darf. Von diesen wiederum werden normalerweise nicht alle geliefert: Einige stehen weiterhin unter Verschluss oder werden gerade restauriert. Zudem gibt es ein wöchentliches Leselimit von maximal 500 Seiten.

Ganz anders ist da die Situation in Großbritannien: Nicht nur sind viele Akten digital verfügbar. Es ist hier auch möglich, bis zu zwanzig Akten pro Tag zu bestellen. Akten werden noch am selben Tag geliefert. Zudem befinden sich die Akten des Foreign und des Home Office an einem Ort, ich musste also nicht wie in Russland drei verschiedene Archive aufsuchen. Auch das Fotografieren ist problemlos möglich. Der Aufenthalt im Archiv wird dadurch erheblich verkürzt. Der Nachteil allerdings ist, dass sich am Ende viele Dokumente als Bilddateien auf der Festplatte finden, diese allerdings zunächst ungelesen bleiben. Ähnlich wie in Russland (und anders als viele der restlichen Archivbenutzer) verlegte ich mich deshalb auch in den National Archives bald auf das Exzerpieren, das eine bessere Grundlage für die weitere Arbeit liefert.

Wenn man mich allerdings fragen würde, welche Form der Archivrecherche mir besser gefällt, so würde ich vermutlich antworten: Die Arbeit in Russland. Die Gespräche über diesen oder jenen exzentrischen Archivar, die Gerüchteküche über die Öffnung oder Schließung von Archiven und über die vermeintlichen Schätze, die noch in den Archiven schlummern, macht die Arbeit dort zu einer besonderen Erfahrung. Die Archive werden zur gemeinsamen Obsession: Wie sehnsüchtig alle Kolleg*innen darauf gewartet haben, dass endlich das Archiv für Zeigeschichte (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii, RGANI) wieder geöffnet wird! Über Monate und Jahre wurde hierüber in den entsprechenden Facebook-Gruppen spekuliert, Gerüchte aus dem Umfeld der Archivdirektion lanciert. Und als ich dann in Moskau bin, ist es so weit: Das Archiv ist auf! Und die Kolleg*innen strömen nach Moskau, aus Deutschland, Schweden, Italien kommen sie angereist, um endlich die letzten Geheimnisse des Politbüros zu lüften.

Mich selbst betrifft dieser Trubel natürlich nur am Rande, denn, wie gesagt, ist die Arbeit mit den Akten des 19. Jahrhunderts deutlich einfacher. Dennoch bleiben auch bei mir am Ende Fragen offen, insbesondere im Außenpolitischen Archiv. Und vielleicht werden diese Fragen dann auch zu einem Grund, um doch noch einmal nach Moskau ins Archiv fahren zu „müssen“.

Moritz Florin, 24.5.2019